K 9 – Wie ein Text entsteht

13 Juli 2016
Vorfeld und Text 

Ohne Zweifel ist das Vorfeld die Position mit der weitesten Entfernung zum Satzende. Dennoch besitzen Satzglieder auf dem Vorfeld eine gewisse Macht und Herrlichkeit. Das hängt zusammen mit zwei Aufgaben, die sich an dieser Stelle optimal verrichten lassen. 

Verknüpfen

Die erste Aufgabe heißt Verknüpfen. Ein Text ist ja kein Hintereinander von abgehackten Worteinheiten. Das Wort „Text“ ist verwandt mit der „Textilie“, also einem Stück Stoff, in dem die einzelnen Fäden zu einem Ganzen zusammen gewoben sind. 

Text und Textilie 


Ein Text sieht also nicht so aus:
_______________________
_______________________
_______________________

Sondern so:
____⊆⊇____________⊆⊇____________⊆⊇__________⊆⊇__

Gerade die Stelle, an der ein Satz mit dem nächsten verhäkelt wird, ist das Vorfeld. Das heißt, dass das Satzglied auf dem Vorfeld gut daran tut, auf etwas zurückzuweisen, das vor ihm liegt, auf eine Stelle im Satz davor, an die es sich andockt. 

Wie lässt sich andocken?

Eine solche Stelle zum Andocken findet sich natürlich nicht immer und automatisch. In solchen Fällen bietet sich als Vorfeldbesetzer die temporale Angabe (TE) geradezu an. Alles, was passiert, hat schließlich eine Zeit. Wenn es also sonst nichts gibt, worauf man zeigen kann, dann doch oft genug ein zeitliches Datum, das sich dafür eignet. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass sich die Angabe TE so oft am Satzanfang findet. 

Anknüpfen können alle Satzglieder

TE, aber auch LO (lokale Angaben) eignen sich hervorragend zum Anknüpfen. Ganz grundsätzlich schaffen das mit Ausnahme des Verbs aber alle Satzglieder, also auch die anderen Angaben zu Kausalem und Modalem, die Ergänzungen oder Objekte. Im Prinzip darf jedes Satzglied aufs Vorfeld, es muss nur in der Lage sein, die Satzfäden zu einem Text zu verhäkeln. Sehen wir uns ein Stück Textgewebe an, richten wir das Augenmerk auf die Satzglieder im Vorfeld und auf die Informationen im Vorsatz, auf die sie verweisen

TE        Im Jahre 1992 gründete sich die Republik Kasachstan
LO        Überall im Land kam es zu Ausschreitungen:
ObD       Russischen Frauen wurden die Bäuche aufgeschnitten,
ObA       ihre Kinder aus den Fenstern geworfen.
S           Der Nationalstolz der Kasachen war fürchterlich.
TE         Als Sergey von einem Großen Rennen in Frunse zurückkam
    fand er seine Familie in Schrecken erstarrt.
S      Sie lebten auf dem Land,
LO        bis zu ihnen kamen die Greuel nicht.
S           Etwas aber war neu für Sergey:
S           Seine alten Kumpel hatten sich verändert:
KA         Während sie früher ein gemeinsamer Haufen waren
    benahmen sie sich nun seltsam höflich ihm gegenüber
S      Er war kein Kasache, das genügte schon.
(S=Subjekt; ObA=Akkusativobjekt; ObD=Dativojekt: TE=temporale Angabe; KA=kausale Angabe; LO=lokale Angabe)

Dienst am Leser/Hörer

Indem sie solche Häkelmuster erstellen, leisten die Satzglieder auf dem Vorfeld für den Leser oder Zuhörer gleich mehrere wertvolle Dienste:
 
- Sie nehmen ihm Arbeit ab, er muss sich nicht bei jedem Satz mühsam in etwas Neues hineindenken, sondern kann sich auf die Erinnerung an das Gehörte stützen.

- Sie geben ihm gleich zu Beginn des neuen Satzes einen Hinweis darauf, in welche Richtung ungefähr es weiter gehen könnte, worauf sich sein Gehirn also wahrscheinlich einzustellen hat (eine Serviceleistung, die besonders von Simultandolmetschern hoch geschätzt wird).

- Indem sich Satzglieder freiwillig ins Vorfeld begeben, die ebenso gut auch nach dem Verb stehen könnten, entlasten sie das oft schwer an seinen vielen Satzgliedern tragende Mittelfeld.

Teilen:

Blog abonnieren