Wir Muttersprachler

28 Mai 2016
Der erste Schock

Deutsch gilt als schwierige Sprache. Tatsächlich haben es Nichtmuttersprachler nicht leicht mit dem Deutschen, der erste Schock ist dabei meist die Begegnung mit der, die, das. Genau betrachtet ist das ja auch für uns ein seltsames Ding: Der Mann, die Frau, das Kind – schön, das lässt man sich noch eingehen. Aber wieso heißt es der Mund, die Nase und das Ohr? Weit und breit ist keine Logik darin zu sehen. Noch nicht einmal eine Endung, die sich als Regel lernen lässt. Und dann wird noch den oder dem Mund daraus und die Ohren. So was kann man doch auch einfacher haben: Im Englischen genügt für dieses Wirrwarr schließlich ein einziges handliches the. Das stimmt, und es hat für beide Sprachen sehr interessante Konsequenzen, die wir uns gleich näher ansehen werden.

                                   der Löffel              die Gabel            das Messer

Das Sprachgefühl

Nun haben wir als Muttersprachler normalerweise kein Problem mit der, die, das. Überhaupt – wir beherrschen doch unsere Sprache. Auch wenn wir keine studierten Linguisten sind, können wir normalerweise mit traumwandlerischer Sicherheit sagen, ob ein Satz im Deutschen richtig oder falsch ist. Diese Sicherheit in uns stiftet das Sprachgefühl. Das funktioniert ohne Nachdenken. Ein bisschen gehen wir dabei vor wie die Rennpferde, wenn sie kurz vor dem Start noch einmal ihren Schweif heben, um ein halbes Kilo verdauten Hafer auf den Sand zu äpfeln. Die Pferde machen das nämlich nicht grundlos. Ein Pfund mehr oder weniger kann einen Wettkampf entscheiden. Aber die Pferde überlegen nicht dabei. Sie tun einfach, was ihr Gefühl ihnen sagt. Das machen auch wir, wenn wir Sätze bilden. Gefühle allerdings können trügen. Wissen dagegen verschafft Sicherheit. Die wir manchmal brauchen könnten, dann nämlich, wenn uns unser Sprachgefühl unvermittelt im Stich lässt. Das passiert meist dann, wenn wir plötzlich mit einer Alternative konfrontiert werden zu dem, was wir bis jetzt immer als richtig empfunden haben.

Sprachgefühl außer Tritt

Zum Beispiel wenn uns ein ausländischer Freund höflich Wie gehst du? fragt und wir über dieses kleine es beim Wie geht es dir? stutzig werden. Oder wenn man in diesem Quiz von Bastian Sick selbst nicht mehr hätte sagen können, ob es nicht richtigerweise sagen hätte können heißen sollte oder sagen können hätte. Oder wenn unsere kleine Tochter fragt, warum wem muss ich fragen falsch sein soll. Wenn wir das doch wüssten! Oder heißt es Wenn wir doch das wüssten? Irgendwie klingt dieser Satz nicht gut – aber gegen welche Regel wird hier denn verstoßen? Über unsere Muttersprache wissen wir ziemlich wenig. Wir können sie, aber wir kennen sie nicht.

Über unsere Muttersprache wissen wir ziemlich wenig

Und das ist völlig normal. Als Muttersprachler gehen wir so sicher und vergnügt mit der Sprache um, wie sie selbst es sich nur wünschen kann. Wir sprechen so, schreiben anders und lesen und hören auf eine dritte und vierte Weise. Wir sind Dialektsprecher und beherrschen natürlich die Schriftsprache, wir haben Fremdsprachen gelernt. Mit der Sprache – mit den Sprachen – lehren, lieben, loben, tadeln wir. Und werden getadelt. Denn Fehler machen wir auch. Oder vielleicht sind es keine Fehler, aber jemand behauptet es, und wir haben nichts in der Hand gegen den Oberlehrer in oder vor uns. 

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