K 12 – Wie Sprache beginnt

27 Juli 2016
Sprachliche Extravorlieben
 
Im Laufe der Zeit hat sich bei Interjektionen und Gesten eine kulturspezifische Verzweigung ergeben, so dass heutige Sprachgemeinschaften manchmal voneinander abweichen: Deutsche schreien bei Schmerz eher au, Lateinamerikaner bevorzugen ein ai, Russen das oi; manche Laute gibt es auch nur exklusiv, das französische ohlala etwa. Aber warum sollen sich auf dem langen Weg zur Entwicklung der einzelnen Sprachen keine Extravorlieben herausgestellt haben? Schließlich finden auch nicht alle Kulturen dasselbe wohlschmeckend oder ekelhaft. Und auseinander entwickelt haben sich alle Spezies. Denken wir an die genügsamen Islandponys und an Sergeys anspruchsvolle Rennpferde, die ihren Hafer brauchen.

Isländer "Trausti"

Traber "Otto" © Karin Walter

So ähnlich und doch sehr verschieden: Knabstrupper "Theo" und Appaloosa Shetlandpony "Kleiner Onkel" 
© Silke Thomas
 
Herz, limbisches System und Bewusstsein
 
Das Verständnis stört sich sowieso kaum an diesen Unterschieden. In Kombination mit dem Gesichtsausdruck verstehen wir einander bei unseren aus und ois, weil Interjektionen die lautliche Gestalt des Gefühls selber oder eine instinktive Reaktion darauf sind. Geradeso, wie wir uns ducken bei Gefahr, wie uns das Herz schlägt, wenn etwas Aufregendes bevorsteht, in der gleichen Unmittelbarkeit schreien wir ah oder ziehen die Luft ein. Das limbische System hat seinen Anteil an der Hervorbringung von Interjektionen, unser Bewusstsein aber auch, wenn wir mit mˇhm signalisieren, dass wir verstanden haben.
 
Keine Geschichten
 
Was fehlt noch, um von Sprache sprechen zu können? Nun ja, Geschichten lassen sich mit Interjektionen nicht erzählen. Es gibt aber noch etwas, das über Expression und Appell hinausgeht. Wir können mit einem mitleidigen oh oder oi auf den Schmerz eines anderen reagieren. Und das ist ein eigener Schritt. 
 
Der Laut wird Symbol
 
Er findet statt, sobald der Laut sich löst vom unmittelbaren Anlass des Gefühls. Ursprünglich haben au oder oi den eigenen Schmerz begleitet. Wenn sie bedeuten sollen, dass wir den Schmerz des anderen mitfühlen, verselbständigt sich der Laut zum Symbol – die Sprache beginnt.  
 
Die Sprache beginnt
 
Die Sprache beginnt, und es ist natürlich ein weiter Weg von der Interjektion bis zum gelungenen Satz. Aber das haben wir ja auch gelernt, dass Sätze gelingen können auf ganz verschiedene Weise. Was hat Salli von ihren Kollegen gehört, als sie von ihrem Kartoffel-Unfall erzählte? „Du Arme! Das tut mir aber Leid.“ Verstanden hat sie über viele neuronale Verschaltungen: Ich tue ihnen Leid. Sergeys oi und sein Gesicht dazu – diese Botschaft ist direkt an ihr Herz gegangen, da musste sie nichts mehr entschlüsseln.
 
Eigentlich beginnt die Geschichte jetzt erst
 
Aber ob ein oi allein genügt? Ob es trägt über den magischen Moment hinweg, in dem die beiden – Salli und Sergey, zwei so verschiedene Menschen – sich da gerade gegenüber sitzen? In den Alltag hinein, wo Sergey einen Hof bewirtschaften will und Salli ihre neuen Schüler in einem Hotel unterrichten soll? Eigentlich beginnt ihre Geschichte ja jetzt erst. Dafür werden sie sicher etwas mehr Sprache brauchen: Worte, Formen, Satzglieder. Die Sergey wohl auch in Zukunft nach seinem russisch-sergeyschen Plan durcheinander werfen wird. Während Salli weiter darüber nachdenken wird, wo Verben stehen, wie sich Angaben sortieren, wann ausgeklammert oder markiert werden darf; stets wachsam, stets auf der Suche nach dem besten, dem optimal gebauten, dem gelungenen Satz.

Tags: "au", "oi", "ohlala", ai

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