Unterschied zwischen sollen und müssen
Hallo Frau Dr. Jodl, Seit einiger Zeit quälen mich Modalverben. Soll man müssen, wenn es von einem gefordert wird, oder soll man sollen? Heißt müssen nicht eigentlich, dass physische Gewalt oder materielle Zwänge dahinterstehen, so dass man weiß, dass es kein Sollen ist, wo nur moralische Verurteilung droht? Oder liegt es in der Wertung des Subjekts, das eine moralische Ächtung derartig schlimm findet, dass es auch dann ein Müssen formulieren würde? In einigen sozial- und polit-ökonomischen Bücher werden die Modalverben sollen und müssen m.E. synonym verwendet. Was sagt die Fachfrau dazu?
Wie es die Soziologen und Ökonomen mit Modalverben halten, weiß ich nicht, gehe aber davon aus, dass sie sie ihrer Funktion und Bedeutung entsprechend verwenden. Und da verläuft die Trennlinie nicht zwischen physischer Gewalt vs moralischer Ächtung nach dem Motto: müssen = ganz schrecklich streng, wenn ich nicht tue, was ich muss, kommt der Kopf runter und sollen = halb so wild, ich soll ja nur, also könnte ich es auch bleiben lassen.
Der Unterschied heißt vielmehr: müssen = äußerer Zwang vs sollen = fremder Wille. Graphisch könnte man sich das vielleicht so vorstellen:

Einfache Linie: der Inhalt und ich Drei Dinge: der Inhalt, ich und eine
dritte Person mit ihrem Willen
Ich muss jetzt nach Hause gehen Ich soll nach Hause gehen
(weil es spät ist, kein Bus mehr geht, (gerade hat mein Freund angerufen
der Mann mit dem Nudelholz und mich nach Hause befohlen).
hinter der Tür steht).
Ich muss mit den Zigaretten Ich soll mit den Zigaretten aufhören aufhören
(weil ich keine Luft mehr kriege). (das hat der Arzt gesagt)
Ich muss Sängerin werden Ich soll Sängerin werden
(weil das meine Leidenschaft ist). (das will mein Vater, ich vielleicht nicht).
Alle Menschen müssen sterben Die rosa Labormäuse sollen
heute sterben, die gelben erst
morgen.
(das ist einfach so, darüber gibt es (das hat der Laborchef angeordnet).
keine Diskussion).
Darüber, dass bei sollen immer eine Instanz ins Spiel kommt, die etwas anordnet, befiehlt, explizit wünscht, kann der Eindruck entstehen, der Inhalt wäre diskutabel, die ganze Sache also nicht so wild (wie bei müssen). Tatsächlich hängt der Zwang, der da in der Luft hängt, aber allein vom Inhalt des Konstatierten ab, der ist z.B. bei Alle Menschen müssen sterben unausweichlicher als bei Ich muss jetzt eine rauchen.
Wegen dieser dreieckigen Komplexität bei sollen hat dieses Modalverb auch mehrere Funktionen, die sich klar unterscheiden lassen in:
1. Ein fremder Wille wird zitiert: Ich soll mit dem Rauchen
aufhören
(hat der Arzt gesagt).
2. Der eigene Wille wird zitiert: Du sollst mir endlich meine
Zigaretten geben, verdammt
noch mal!
3. Der eigene Wille wird befragt: Was soll ich nur tun, mein Gott?!
4. Eine moralische Instanz wird zitiert: Du sollst nicht töten, lügen,
stehlen etc.
Womöglich wegen dieser letzten Funktion ist der Gedanke aufgekommen, bei sollen ginge es ausschließlich um Moral. Nein, das stimmt nicht. Die 10 Gebote kommen mit sollen daher, weil hier Moses, der Prophet oder andere heilige Männer den Willen Gottes zitieren, nicht anders als wir profanen Menschen es tun, wenn wir zu Hause des Arztes Befehl wiedergeben: Mann, stell dir vor: Ich soll aufhören zu rauchen!
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