Warum brauchen wir eigentlich zweimal das Futur (Futur I vs Futur II)?
Liebe Angelika! Was ist der Unterschied und wozu brauchen die Deutschen zwei Formen des Futurs? Liebe Grüße, Lilly
Liebe Lilly,
jetzt endlich kommt die Antwort auf deine Frage. Die ich erst mal sehr gut verstehe: Wenn man davon aus geht, dass die grammatikalischen Tempora dem entsprechen, was man normalerweise mit Zeit meint, kommt man tatsächlich aus dem Staunen nicht mehr heraus: Die Deutschen haben drei Vergangenheiten? Und zweimal eine Zukunft? Das Rätsel löst sich aber, wenn man genauer hinsieht – nämlich in Texte, geschriebene und gesprochene – und dabei feststellt, dass all diese grammatikalischen Zeiten mit der wirklichen Zeit nur sehr bedingt etwas zu tun haben. Viel wichtiger ist ihre Rolle für die Art und Weise, in der wir Texte produzieren. Das kann nämlich auf eine monologische Art vor sich gehen (Erzählung) oder eher dialogisch angelegt sein. Je dialogischer, kommunikativer etwas gemeint ist, desto mehr Präsens verwenden wir, die gesprochene Sprache benutzt zu 80% das Präsens.
Eine Präsensform finden wir auch im Perfekt, in Futur I und Futur II:
Vor ein paar Monaten hast du mir deine Frage gestellt.
Jetzt werde ich mir bei der Antwort große Mühe geben.
Und am Ende wirst du alles verstanden haben, das verspreche ich hiermit.
Du hast, ich werde, du wirst – hier sind sie zwar nur als Hilfsverben tätig, trotzdem steckt in ihnen noch die Erinnerung an das Präsens, das wir im Dialog so oft brauchen, das dem Gesprächspartner signalisiert: He! Bleib wach! Ich rede mit dir – und du wirst vielleicht gleich antworten müssen!
Und nun zum Futur. Brauchen wir das wirklich, wenn wir über die Zukunft sprechen? In den allermeisten Fällen nicht, da nehmen wir das Präsens:
Du möchtest frisches Brot? Ich laufe gleich zum Bäcker.
Weißt du was? Nächstes Jahr fahre ich wieder nach Russland.
Wenn wir über unsre Zukunftspläne nachdenken und schon sicher sind, dass alles klappt, dann denken wir sozusagen nur noch im Präsens geradeaus und verwenden das Präsens. Temporale Adverbien wie gleich, bald, heute Abend, nächstes Jahr sagen sowieso schon, dass die Sache nicht jetzt, sondern in der Zukunft passieren wird.
Nur wenn wir uns nicht so hundert Prozent sicher sind, dass alles glatt läuft, dann müssen sich die deutschen Sprecher mehr Mühe geben, ein extra Futur basteln und damit quasi dem Gesprächspartner immer heimlich dazu sagen: Vorsicht! Das ist Zukunftsmusik! Wer weiß, ob das auch wirklich passiert!
Deshalb finden wir das Futur I besonders in diesen Bereichen:
Vermutung: Warum isst dieser Mann nichts? – Es wird
ihm wohl nicht schmecken.
Drohung: Mein lieber Mann, du wirst jetzt sofort
deinen Teller leeren!
Feierliches Versprechen: Liebste Frau, ich werde nie wieder dein
Essen kritisieren!
Prognose (oft düster): O Gott, sie wird ihn vergiften, wir wissen es.
Pläne (in der ferneren Zukunft): Als reiche Witwe werde ich hoffentlich
jeden Tag im besten Restaurant speisen.
Die Vermutung ist die häufigste Funktion des Futurs. Hier hat auch das Futur II seinen Platz, nämlich dann, wenn wir über die Vergangenheit spekulieren:
- Wo ist denn dieser nette Herr geblieben? Es wird ihm doch nichts
passiert sein?
- Doch, da muss was Schlimmes passiert sein: Er soll gestorben sein
und seine Frau, sagt man ...
- Was?
- Na ja, sie war immer sehr cholerisch. Sie wird ihn wohl umgebracht
haben.
Um noch deutlicher zu machen, dass es sich um eine Vermutung handelt, benützt man hier sehr oft die Modalpartikel wohl, manchmal auch modale Adverbien wie vielleicht, vermutlich, wahrscheinlich.
Als Regel für das Futur I können wir also festhalten: Je unwahrscheinlicher, desto Futur. Und das Futur II nehmen wir heute nur noch bei Ereignissen, die vielleicht, vermutlich, möglicherweise in der Vergangenheit passiert sind.
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