K 10 – Wie und wozu markiert man Satzglieder?

16 Juli 2016
Entspricht die Reihenfolge der Wörter unserer Erfahrung, ist sie neutral, verläuft sie gegen unsere Erwartung, ist sie markiert.
Judith Macheiner. Das grammatische Varieté. 1991.

Markieren

Wenden wir uns noch einmal Sergey zu. Bei dem stehen ja noch ein paar Fragen offen. Was nach seiner Ankunft in Deutschland passiert ist zum Beispiel.

Zuerst mal ist er mit seinen Schwestern in einem Lager gelandet. Zwei Monate lang lebten sie da in einem Zimmer. Die Ämter bezahlten das Essen für sie und einen Sprachkurs. Weder das eine noch das andere schmeckte recht. Keiner von ihnen mochte nur herumsitzen, die Schwestern und er wollten arbeiten. In dem Lager lebten lauter Russlanddeutsche wie sie. Als sie es endlich verlassen durften, gingen sie dahin, wohin die meisten anderen auch zogen: In eine mittelgroße Stadt im Fränkischen. Dort lebten so viele Leute aus ihrem Land, dass man auf der Straße mehr Russisch hörte als Deutsch. Welche Arbeit gab es da für sie? Buchhalterinnen waren die Schwestern in Russland gewesen. Jetzt arbeiteten sie in einem Krankenhaus als Putzfrauen.

Stopp. Wie waren diese Sätze aufgebaut? Nicht sehr kompliziert, eher einfach im Duktus, aber gerade so sehr normal, nach all den Regeln, wie wir sie bisher kennen gelernt haben: Kurz steht vor lang, die zeitlichen Angaben vor denen zum Ort. Im Vorfeld findet sich meist das Subjekt oder eine temporale Angabe oder eine lokale Ergänzung, die an den Satz davor anknüpfen. Alles normal, bis auf einen Satz:

Buchhalterinnen waren sie in Russland gewesen


Können wir hören, wie da zusammen mit der Ergänzung eine leichte Empörung auf dem Vorfeld erklingt? In diesem Satz hat ein besonderer Wind die bisherige Ordnung der Satzglieder auseinander geblasen. Eine Ergänzung, die das Verb sein verlangt, erwarten wir normalerweise gegen Ende des Satzes:

Sie waren in Russland Buchhalterinnen gewesen.

Diese Ergänzung hat es nun ganz nach vorne ins Vorfeld geweht. Hier hat sie, obwohl sie das wichtigste Wort im Satz ist und also auf der Endposition erwartet wird, den wirkungsvolleren Auftritt. Warum? Es mag mit dem zu tun haben, was Drach als „Ausdrucksstelle“ am Vorfeld bezeichnet hat. Wenn wir den Satz laut lesen, können wir hören, wie wir die Buchhalterinnen hier ganz anders betonen, als wenn sie in der Normalstellung aufträten. Aber auch wenn keine leidenschaftlichen Gefühle im Spiel sind, lässt sich feststellen, dass wir aufhorchen, wenn Sätze sich nicht nach unserem gewohnten Muster aufbauen. 

Diese Unterbrechung der syntaktischen Windstille nennt die Grammatik Markieren.

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