K 4 – Genitivobjekt, Präpositionalobjekt

20 Juni 2016
Totgesagte leben länger
 
Das Genitivobjekt. Gibt es wirklich Verben, die danach verlangen? Ja, aber nur noch eine Handvoll. Und nur in sehr speziellen Situationen. Seit Ende des vorletzten Jahrhunderts sind sie von 160 auf weniger als 20 Stück zurückgegangen. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Genitiv, dessen Tod schon so ausgiebig beweint wurde, tatsächlich im Jenseits gelandet ist. 
 
Der Genitiv als Form
 
Als Form, die Besitz anzeigt wie bei Sallis Küchenstuhl, Urheberschaft wie Anselms genialem Plan oder nähere Erklärung wie die (bei Sergey ausgeprägte) Tugend der Rechthaberei, erfreut er sich bester Gesundheit. Nur als Objekt im Satz hat er mehr und mehr ausgedient – oder können wir uns vorstellen, dass Salli eines Doktortitels entbehrt?
 
Bequemlichkeit und kriminelle Genitive
 
Warum ist das Genitivobjekt nicht mehr in Gebrauch? Höchstwahrscheinlich, weil sich unser Wortschatz im Laufe der Zeit immer mehr vergrößert hat und weil wir uns damit so viel zu sagen haben, dass ein schnellerer, bequemerer Weg notwendig wurde. Der Genitiv mit seiner sehr ausgeprägten Form ist unbequemer als der Dativ und viel unbequemer als der Akkusativ. Übrig geblieben sind ein paar feste Formeln  – gemessen am normalen Sprachgebrauch spotten sie quasi jeder Beschreibung –, ein paar Verben, für die es längst normalsprachlicheren Ersatz gibt, so dass man sich ihrer nur in gewissen festlich-heiligen Situationen befleißigt; und sieben Verben, die in den Gerichtsstuben überwintert haben, wo sie mit ihrem „Genitivus Criminis“ wirklich gebraucht werden. Falls eine unserer Figuren des Pferdediebstahls oder der Herzensbrecherei bezichtigt, angeklagt oder überführt werden sollte, hätten wir also einen echten Grund für ein Genitivobjekt im Roman. Ansonsten wird die bislang unbescholtene Salli nicht ihres Vaters gedenken, sondern sich ganz einfach an ihn erinnern. 
 
Auftritt der Präpositionen
 
Dieser Ersatz ist nicht ganz zufällig. In dem Maße wie das Genitivobjekt seine Stellung im modernen Deutsch verlor, haben die eifrigen kleinen Präpositionen ihre Chance zum Objektbauen ergriffen und damit einer allgemeinen sprachgeschichtlichen Tendenz entsprochen: Heute servieren wir Satzteile lieber in klein gehackten Häppchen als in fetten Nomen mit schwierigen Endungen. Und damit hat das Präpositionalobjekt die Bühne betreten – der letzte Mitspieler des Verbs. Bei dieser Objektsorte wählt sich das Verb eine Präposition, die wiederum zieht einen Kasus nach sich, in den sich das jeweilige Nomen oder Pronomen bequemen muss. 
 
in, an, auf ...
 
Die Präpositionen, die sich für eine solche Unternehmung eignen, gehören zur ältesten Familie dieser Spezies. Sie heißen in, an, auf, für, gegen, nach, über, um, unter, von, vor, zu. Ihre ursprüngliche Aufgabe war es, über Orte und Räume zu sprechen. Deshalb sieht ein Präpositionalobjekt einer lokalen Ergänzung ziemlich ähnlich. Es ist aber keine.
 
Präpositionalobjekt oder lokale Ergänzung?
 
Anselm steht in Sallis Küche. (lokale Ergänzung)
Ob er sich vielleicht doch in Salli verliebt hat? (Präpositionalobjekt)
 
Im ersten Satz ergänzt die präpositionale Wortgruppe die Frage nach dem Wo. Im zweiten ist das nicht gut möglich, Salli ist schließlich kein Ort. Wahrscheinlich um das zu betonen, sagen viele Linguisten, dass beim Präpositionalobjekt die Präpositionen ihre „lexikalische“, also die ursprüngliche und somit lokale Bedeutung verloren haben. Aber stimmt das? Braucht nicht doch auch das Verlieben ein Wohin? 
 
Wohin mit Amors Pfeil?

Ist es wirklich Zufall, dass dieses Verb in seiner Begierde nach einer Präposition auf das gleiche Wort gestoßen ist wie Amors Pfeil, der sich ja auch ins Herz des Betroffenen bohrt? Immer wenn sie auf solche Fragen antworten soll, kommt Salli die Erinnerung an ihre so lang verstorbene niederbayrische Mutter mit ihrem „Auf a jeds Topferl passt a Deckel“ und sie stellt sich vor, wie ein Deckel geflogen kommt und sich auf sie, beziehungsweise den Topf niederlässt, ebenso wie eine Antwort auf die Frage
 
 

Warum sich vor etwas ängstigen und um jemanden kümmern?

Nein, sagt sich Salli, während sie Bleistifte spitzt, sie ist kein Topf, der nach einem Deckel sucht, sie bereitet ein wissenschaftliches Projekt vor. Sie wird dabei, so weit Präpositionen eine Rolle spielen, deren Bedeutung nutzen, denn die wirkt weiter, auch in den Objekten, da erzählt ihr keiner was. Diese Angstverben etwa, immerzu erschrickt oder ängstigt man sich vor etwas. Genau das war doch ihr Gefühl, als vor acht Wochen dieses Pferd so groß und leibhaftig vor ihr stand. Und tatsächlich, schon bald wird sie Gelegenheit erhalten, Sergey sehr physisch zu erklären, worin der Unterschied besteht zwischen sich um jemanden sorgen und für jemanden sorgen und wie schön sich dieses kleine um anfühlen kann, wenn da jemand immerzu mit besorgter Miene um einen herumstiefelt
 
Keine friedliche Koexistenz von Objekten
 
Aber bevor es soweit ist, wird sie sich erst auf die Rennbahn in München-Daglfing begeben und einen Disput über die Todesstrafe sowie über Kants wahre Identität überstehen müssen. Während wir uns unsere Objekte noch einmal ansehen wollen. Diesmal unter dem Aspekt der Macht. Denn von friedlicher Koexistenz mehrerer Objekte in einem Satz kann keine Rede sein ...

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